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FOREWORD TO GENERAL THEORY

Foreword to the German Edition/Vorwort Zur Deutschen Ausgabe


Alfred Marshall, nach dessen Principles of Economics alle zeitgenössischen englischen Ökonomen erzogen wurden, gab sich besondere Mühe, den Zusammenhang seines Denkens mit jenem Ricardos hervorzuheben. Sein Werk bestand großenteils darin, daß er das Gesetz des Grenznutzens und das Gesetz der Ersetzung auf die Ricardosche Überlieferung pfropfte, und seine Theorie der Produktion und des Verbrauches als Ganzes ist, im Gegensatz zu seiner Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen Produktion, nie für sich dargelegt worden. Ich bin nicht sicher, ob er selber das Bedürfnis nach einer solchen Theorie verspürte. Aber seine unmittelbaren Nachfolger und Schüler haben sie sicherlich aufgegeben und ihr Fehlen offenbar nicht empfunden. In dieser Atmosphäre bin ich erzogen worden. Ich habe diese Doktrinen selber gelehrt, und erst innerhalb des letzten Jahrzehntes bin ich mir ihrer Unzulänglichkeit bewußt geworden. In meinem eigenen Denken und meiner eigenen Entwicklung stellt dieses Buch daher eine Reaktion dar, einen Übergang und eine Loslösung von der englischen klassischen (oder orthodoxen) Überlieferung. Wie ich dies und die Punkte, in denen ich von der anerkannten Doktrin abweiche, hervorgehoben habe, ist in gewissen Kreisen in England als übermäßig kontrovers betrachtet worden. Aber wie kann einer, der in englishcer wirtschaftlicher Orthodoxie erzogen wurde, sogar einmal ein Priester jenes Glaubens war, einigen kontroversen Nachdruck vermeiden, wenn er zum erstenmal ein Protestant wird?
Ich kann mir aber vorstellen, daß all dies die deutschen Leser etwas verschieden berühren mag. Die orthodoxe Überlieferung, die im England des neunzehnten Jahrhunderts herrschte, hat nie eine so starke Macht auf das deutsche Denken ausgeübt. In Deutschland hat es immer wichtige Wirtschaftsschulen gegeben, die die Zulänglichkeit der klassischen Theorie für die Analyse zeitgenössischer Ereignisse stark in Frage gestellt haben. Sowohl die Manchester-Schule wie der Marxismus stammen letzten Endes von Ricardo ab — eine Folgerung, die nur bei oberflächlicher Betrachtung zu überraschen braucht. Aber in Deutschland hat es immer einen großen Teil der Meinung gegeben, der weder zur einen noch zur anderen Schule gehalten hat.
Es kann jedoch kaum behauptet werden, daß diese Gedankenschule einen gegnerischen theoretischen Aufbau errichtet hat oder auch nur versucht hat, dies zu tun. Sie ist skeptisch, realistisch gewesen, zufrieden mit historischen und empirischen Methoden und Ergebnissen, die eine formelle Analyse verwerfen. Die wichtigste unorthodoxe Erörterung auf theoretischer Ebene war jene von Wicksell. Seine Bücher waren in deutscher Sprache erhältlich (was sie bis vor kurzem im Englischen nicht waren); eines seiner wichtigsten war in der Tat in deutscher Sprache geschrieben. Seine Nachfolger aber waren hauptsächlich Schweden und Österreicher; die letzteren verbanden seine Ideen mit wesentlich österreichischer Theorie und brachten sie so in Wirklichkeit zur klassischen Überlieferung zurück. Deutschland hat sich somit, im Gegensatz zu seiner Gewohnheit in den meisten Wissenschaften, während eines ganzen Jahrhunderts damit begnügt, ohne eine vorherrschende und allgemein anerkannte formelle Theorie der Wirtschaftslehre auszukommen.
Ich darf daher vielleicht erwarten, daß ich bei den deutschen Lesern auf weniger Widerstand stoßen werde als bei den englischen, wenn ich ihnen eine Theorie der Beschäftigung und Produktion als Ganzes vorlege, die in wichtigen Beziehungen von der orthodoxen Überlieferung abweicht. Aber darf ich hoffen, Deutschlands wirtschaftlichen Agnostizismus zu überwinden? Kann ich deutsche Ökonomen überzeugen, daß Methoden formeller Analyse einen wichtigen Beitrag zur Auslegung zeitgenössischer Ereignisse und zur Formung einer zeitgenössischen Politik bilden? Schließlich liegt es im deutschen Wesen, an einer Theorie Gefallen zu finden. Wie hungrig und durstig müssen sich deutsche Ökonomen fühlen, nachdem sie während all dieser Jahre ohne eine solche gelebt haben! Es lohnt sich sicherlich für mich, den Versuch zu machen. Und wenn ich einige einzelne Brocken beitragen kann zu einem von deutschen Ökonomen zubereiteten vollen Mahl, eigens auf deutsche Verhältnisse abgestellt, werde ich zufrieden sein. Denn ich gestehe, daß vieles in dem folgenden Buche hauptsächlich mit Bezug auf die Verhältnisse in den angelsächsischen Ländern erläutert und dargelegt worden ist.
Trotzdem kann die Theorie der Produktion als Ganzes, die den Zweck des folgenden Buches bildet, viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepaßt werden als die Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen Maßes von laissez-faire erstellten Produktion. Das ist einer der Gründe, die es rechtfertigen, daß ich meine Theorie eine allgemeine Theorie nenne. Da sie sich auf weniger enge Voraussetzungen stützt als die orthodoxe Theorie, läßt sie sich um so leichter einem weiten Feld verschiedener Verhältnisse anpassen. Obschon ich sie also mit dem Blick auf die in den angelsächsischen Ländern geltenden Verhältnisse ausgearbeitet habe, wo immer noch ein großes Maß von laissez-faire vorherrscht, bleibt sie dennoch auf Zustände anwendbar, in denen die staatlich Führung ausgeprägter ist. Denn die Theorie der psychologishen Gesetze, die den Verbrauch und die Ersparnis miteinander in Beziehung bringen; der Einfluß von Anleiheausgaben auf Preise und Reallöhne; die Rolle, die der Zinsfuß spielt — alle diese Grundgedanken bleiben auch unter solchen Bedingungen notwendige Bestandteile in unserem Gedankenplan.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit meinem Übersetzer, Herrn Waeger, danken für seine vorzügliche Leistung (ich hoffe, daß sich sein Vokabularium am Ende dieses Buches über seinen unmittelbaren Zweck hinaus als nützlich erweisen wird), sowie meinen Verlegern, den Herren Duncker & Humblot, deren Unternehmungsgeist seit den Tagen, als sie vor nun sechzehn Jahren meine Wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages veröffentlichten, mir ermöglicht hat, die Fühlung mit den deutschen Lesern aufrecht zu erhalten.

7. September 1936

J. M. KEYNES

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